Zufall
Eigentlich gibt es gar keinen Zufall: davon sind die gebildeten Europäer das zwanzigsten Jahrhunderts fest überzeugt. Der Ausdruck Zufall (behaupten sie) zeigt lediglich an, daß man nicht in der Lage war, die Ursachenkette, die bis zu diesem bestimmten Ereignis geführt hat, vorher zu beobachten und zu berechnen. Das Zufällige ist das Unerwartete; eben das, was mir zu-fällt, wie aus dunklen Fernen herabgeworfen: da liegt es plötzlich auf meinem Weg, in meinem Leben. Das heißt jedoch keineswegs, daß es nicht ebenso notwendig bedingt sei, wie jedes andre Geschehen. Eine Wirkung ohne Ursache, das wäre kein Zufall mehr, sondern ein Wunder - und davon kann doch wohl keine Rede sein.
Eigentlich gibt es gar keinen Zufall: davon sind die gebildeten Europäer das zwanzigsten Jahrhunderts fest überzeugt. Der Ausdruck Zufall (behaupten sie) zeigt lediglich an, daß man nicht in der Lage war, die Ursachenkette, die bis zu diesem bestimmten Ereignis geführt hat, vorher zu beobachten und zu berechnen. Das Zufällige ist das Unerwartete; eben das, was mir zu-fällt, wie aus dunklen Fernen herabgeworfen: da liegt es plötzlich auf meinem Weg, in meinem Leben. Das heißt jedoch keineswegs, daß es nicht ebenso notwendig bedingt sei, wie jedes andre Geschehen. Eine Wirkung ohne Ursache, das wäre kein Zufall mehr, sondern ein Wunder - und davon kann doch wohl keine Rede sein.
So ungefähr denkt heute die große
Mehrzahl der abendländischen Menschen. Aber es ist ja erst ein paar
Jahrhunderte her, daß der Glaube an die allumfassende Gültigkeit und die (von
der neuesten Physik wieder in Frage gestellte)untadelige Präzision des
Kausalgesetzes sich in die Gehirne eingebohrt hat. Und wäre, wenn es etwa das
Netz der Ursachen und Wirkungen sich lückenlos knüpfen ließe, damit das
Weltgeschehen wirklich „erklärt“? Stellt der Leitfaden der
naturwissenschaftlichen Kausalitäten die einzige Möglichkeit dar, im Labyrinth
der Wirklichkeit sich zurechtzufinden? Die sogenannten primitiven Völker, deren
bildhafte Weisheit dem Lebensgeheimnis oft so erschütternd nahekommt, erblicken
in allen Begebenheiten die Willensakte undurchdringlicher Mächte. Der tief
religiöse Mensch, auch in der Gegenwart, erlebt das Weltwerden als creatio
continua, als immerwährende Schöpfung Gottes. Und auch den nüchternsten Rationalisten
faßt wohl manchmal ein Schauer an, wenn im unpersönlichen Spiel der Kräfte jäh
etwas aufblitzt wie eine – Fügung. Daß jede Wirkung eine Ursache hat: mit
dieser dürren Formel ist gar nichts gewonnen, da sie ja über die Natur dieser
„Ursache“ und die Art ihres Waltens gar nichts zu sagen weiß.
Wir müssen also dem Zufall wieder mit mehr Demut begegnen.
Jenes tiefe Gefühl, das uns gerade hier Bedeutsamstes ahnen läßt, ist weder
Aberglaube noch Schwärmerei. Wohl aber ist Aberglaube, und zwar ein Aberglaube
besonders anmaßender und törichter Art, zu meinen, daß die Werkzeuge des menschlichen Denkens zur Bearbeitung des
Weltstoffes ausreichend seien. Die Reichweite unseres Verstandes ist nur allzu
beschränkt, und der „Mächte“ (es kommt wenig darauf an, welchen Namen man ihnen
beilegt) sind viele. Daß etwa – wer hätte das nicht schon erlebt? – genau im
Augenblick einer inneren Reife das äußere Ereignis eintritt, dessen wir zur
Entfaltung und zum Durchbruch bedürfen; daß unmittelbar vor dem geschichtlichen Wendepunkt der Mann
geboren wird, der berufen ist, den entscheidenden Umschwung herbeizuführen; daß
überhaupt in der und der Stunde ein Menschenwesen dieser bestimmen, einmaligen Prägung ins Leben tritt: all dies (und
unzähliges andere noch) ist weder „Zufall“ noch mit Hilfe der Kausalitätsregel
jemals zu deuten.
Klassisches Beispiel des unergründlich sinnvollen Zufalls
ist – die Liebe. Läßt sie sich doch weder mit Willen bewirken noch vorher
erwarten oder berechnen. Sie ist plötzlich da; niemand kann sagen, woher sie
ihm zufällt. Gewiß, auch was hier geschieht, vollendet sich mit Notwendigkeit
nach großen Gesetzen. Aber das wird doch keiner im Ernst glauben, daß hier die mit
Kausalität etwas auszurichten, daß Liebe aus Ursachen zu „erklären“ sei? Etwa
als Wirkung von Schönheit, von Tugend, von geistigen Vorzügen? Aber dergleichen
ist tausendmal da, ohne Liebe zu wecken, und wiederum ist tausendmal Liebe da,
ohne daß von all diesen Eigenschaften auch nur eine einzige feststellbar wäre.
Und manches Mal – der Fall ist gar nicht so selten - kennen zwei Menschen sich seit Jahr und
Tag, leben gleichgültig oder in guter Freundschaft nebeneinander, und eines
Morgens begegnen sie sich, schauen sich an und sind verwandelt: der Funke springt über, die Glut lodert auf;
eine dunkle Macht hat von ihnen Besitz ergriffen, die fortan ihr Leben regieren
wird… Liebe ist niemals ein „blindes Ohngefähr“, aber stets ein Mysterium.
Von Wesen und Wirkungsart der geheimen
Zusammenhänge, die sich hier offenbaren, erfassen wir in günstigen Fällen das
Gröbste und Äußerlichste, meist aber gar nichts. Warum zwischen diesen
bestimmten wesen und in diesem Augenblick Liebe entsteht – nun, es ist
schließlich auch nicht mehr als ein Wort, wenn wir es kosmisch bedingt nennen
und damit andeuten, daß nicht nur der im engeren Sinn persönlich-menschliche
Bereich beteiligt ist, sonder ein allumfassender Kreis von Vorrausetzungen: unzählige Strahlen aus
allen Fernen der Zeit und des Raumes mußten sich treffen, verbinden,
verstärken, um gerade an diesem Punkt
Licht zu entzünden. „Und als die Zeit erfüllet war“ – das Pauluswort enthält im
Grund alles, was Menschenweisheit zu sagen vermag. Oder man mag an die frommen
Griechen denken, die den Kairos als Gott verehrten, den Genius des
schicksalhaften Augenblicks, den Spender unverhoffter Erfüllung oder unwiederbringlicher Möglichkeit , deren man
sich rasch und hellsichtig bemächtigen muß. Aber es kommt nicht viel auf den
Ausdruck an: ob man von der gottgewollten Zeit der Erfüllung spricht, von Schicksalsfügung, von Sternstunde
und Konstellation oder vom unergründlich sinnvollen“ Zufall“ - alles ist nur ein Versuch, im Gleichnis zu
fassen, was uns zugleich nah und fern, vertraut und fremd, untrügliche
Gewißheit und ewiges Geheimnis ist.
"ABC Buch des Herzens", Karl Wollf
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