Wednesday, 25 July 2012

Zufall


Zufall
Eigentlich gibt es gar keinen Zufall: davon sind die gebildeten Europäer das zwanzigsten Jahrhunderts fest überzeugt. Der Ausdruck Zufall (behaupten sie) zeigt lediglich an, daß man nicht in der Lage war, die Ursachenkette, die bis zu diesem bestimmten Ereignis geführt hat, vorher zu beobachten und zu berechnen. Das Zufällige ist das Unerwartete; eben das, was mir zu-fällt, wie aus dunklen Fernen herabgeworfen: da liegt es plötzlich auf meinem Weg, in meinem Leben. Das heißt jedoch keineswegs, daß es nicht ebenso notwendig bedingt sei, wie jedes andre Geschehen. Eine Wirkung ohne Ursache, das wäre kein Zufall mehr, sondern ein Wunder - und davon kann doch wohl keine Rede sein.
So ungefähr denkt heute die große Mehrzahl der abendländischen Menschen. Aber es ist ja erst ein paar Jahrhunderte her, daß der Glaube an die allumfassende Gültigkeit und die (von der neuesten Physik wieder in Frage gestellte)untadelige Präzision des Kausalgesetzes sich in die Gehirne eingebohrt hat. Und wäre, wenn es etwa das Netz der Ursachen und Wirkungen sich lückenlos knüpfen ließe, damit das Weltgeschehen wirklich „erklärt“? Stellt der Leitfaden der naturwissenschaftlichen Kausalitäten die einzige Möglichkeit dar, im Labyrinth der Wirklichkeit sich zurechtzufinden? Die sogenannten primitiven Völker, deren bildhafte Weisheit dem Lebensgeheimnis oft so erschütternd nahekommt, erblicken in allen Begebenheiten die Willensakte undurchdringlicher Mächte. Der tief religiöse Mensch, auch in der Gegenwart, erlebt das Weltwerden als creatio continua, als immerwährende Schöpfung Gottes. Und auch den nüchternsten Rationalisten faßt wohl manchmal ein Schauer an, wenn im unpersönlichen Spiel der Kräfte jäh etwas aufblitzt wie eine – Fügung. Daß jede Wirkung eine Ursache hat: mit dieser dürren Formel ist gar nichts gewonnen, da sie ja über die Natur dieser „Ursache“ und die Art ihres Waltens gar nichts zu sagen weiß.
Wir müssen also dem Zufall wieder mit mehr Demut begegnen. Jenes tiefe Gefühl, das uns gerade hier Bedeutsamstes ahnen läßt, ist weder Aberglaube noch Schwärmerei. Wohl aber ist Aberglaube, und zwar ein Aberglaube besonders anmaßender und törichter Art, zu meinen, daß die Werkzeuge des  menschlichen Denkens zur Bearbeitung des Weltstoffes ausreichend seien. Die Reichweite unseres Verstandes ist nur allzu beschränkt, und der „Mächte“ (es kommt wenig darauf an, welchen Namen man ihnen beilegt) sind viele. Daß etwa – wer hätte das nicht schon erlebt? – genau im Augenblick einer inneren Reife das äußere Ereignis eintritt, dessen wir zur Entfaltung und zum Durchbruch bedürfen; daß unmittelbar  vor dem geschichtlichen Wendepunkt der Mann geboren wird, der berufen ist, den entscheidenden Umschwung herbeizuführen; daß überhaupt in der und der Stunde ein Menschenwesen dieser bestimmen, einmaligen  Prägung ins Leben tritt: all dies (und unzähliges andere noch) ist weder „Zufall“ noch mit Hilfe der Kausalitätsregel jemals zu deuten.
Klassisches Beispiel des unergründlich sinnvollen Zufalls ist – die Liebe. Läßt sie sich doch weder mit Willen bewirken noch vorher erwarten oder berechnen. Sie ist plötzlich da; niemand kann sagen, woher sie ihm zufällt. Gewiß, auch was hier geschieht, vollendet sich mit Notwendigkeit nach großen Gesetzen. Aber das wird doch keiner im Ernst glauben, daß hier die mit Kausalität etwas auszurichten, daß Liebe aus Ursachen zu „erklären“ sei? Etwa als Wirkung von Schönheit, von Tugend, von geistigen Vorzügen? Aber dergleichen ist tausendmal da, ohne Liebe zu wecken, und wiederum ist tausendmal Liebe da, ohne daß von all diesen Eigenschaften auch nur eine einzige feststellbar wäre. Und manches Mal – der Fall ist gar nicht so selten  - kennen zwei Menschen sich seit Jahr und Tag, leben gleichgültig oder in guter Freundschaft nebeneinander, und eines Morgens begegnen sie sich, schauen sich an und sind verwandelt:  der Funke springt über, die Glut lodert auf; eine dunkle Macht hat von ihnen Besitz ergriffen, die fortan ihr Leben regieren wird… Liebe ist niemals ein „blindes Ohngefähr“, aber stets ein Mysterium. Von  Wesen und Wirkungsart der geheimen Zusammenhänge, die sich hier offenbaren, erfassen wir in günstigen Fällen das Gröbste und Äußerlichste, meist aber gar nichts. Warum zwischen diesen bestimmten wesen und in diesem Augenblick Liebe entsteht – nun, es ist schließlich auch nicht mehr als ein Wort, wenn wir es kosmisch bedingt nennen und damit andeuten, daß nicht nur der im engeren Sinn persönlich-menschliche Bereich beteiligt ist, sonder ein allumfassender Kreis  von Vorrausetzungen: unzählige Strahlen aus allen Fernen der Zeit und des Raumes mußten sich treffen, verbinden, verstärken, um gerade  an diesem Punkt Licht zu entzünden. „Und als die Zeit erfüllet war“ – das Pauluswort enthält im Grund alles, was Menschenweisheit zu sagen vermag. Oder man mag an die frommen Griechen denken, die den Kairos als Gott verehrten, den Genius des schicksalhaften Augenblicks, den Spender unverhoffter Erfüllung oder  unwiederbringlicher Möglichkeit , deren man sich rasch und hellsichtig bemächtigen muß. Aber es kommt nicht viel auf den Ausdruck an: ob man von der gottgewollten Zeit der Erfüllung  spricht, von Schicksalsfügung, von Sternstunde und Konstellation oder vom unergründlich sinnvollen“ Zufall“  - alles ist nur ein Versuch, im Gleichnis zu fassen, was uns zugleich nah und fern, vertraut und fremd, untrügliche Gewißheit und ewiges Geheimnis ist.

"ABC Buch des Herzens", Karl Wollf

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